Die letzte Oscar-Verleihung und die Ohrfeige von Will Smith an Komiker Chris Rock haben ein Tabuthema unserer Gesellschaft in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt: Haarausfall.
Um genauer zu sein, die Erkrankung Alopecia.
INsüdtirol hat eine mutige junge Frau getroffen, die selbst diese Diagnose bekommen hat und die es sich zur Aufgabe gemacht hat, aktiv gegen Stigmatisierung und Diskriminierung von Betroffenen zu kämpfen: Verena Kofler – eine Südtirolerin, die in Österreich wohnhaft ist, erzählt uns offen ihre Geschichte:
Verena, kannst du uns zuerst kurz beschreiben, was Alopecia ist?
Alopecia ist eine Form des entzündlichen Haarausfalles ohne Narbenbildung. Es tritt bei Männern und Frauen auf. Es ist in jedem Alter möglich, daran zu erkranken. Die Haare fallen aus, können aber wieder nachwachsen. Es ist eine nicht ansteckende Krankheit, die man aber auch nicht vorbeugen kann.
Es gibt unterschiedliche Arten von Alopecia:
Alopecia Areata – kreisrunder Haarausfall, die Haare fallen stellenweise aus, oft runde Stellen, überall am Körper möglich
Alopecia Totalis: Vollständiger Verlust aller Kopfhaare
Alopecia Universalis: Vollständiger Verlust aller Körperhaare, auch Augenbrauen, Nasenhaare, Armbehaarung etc.
Alopecia Androgenetica – meist vollständige Glatzenbildung bei Männern, bei Frauen eher diffuser Haarausfall, lichtes Haar am Scheitel.
Laut aktuellem Stand der Forschung gibt es einige Therapien mit 70-75% Wiederbehaarung. Die Spontanheilung liegt bei 75-80%. Es gibt gewisse Anhaltspunkte, dass Alopecia vererbbar ist. Bei 20% der Areata-Patienten ist mindestens eine andere Person in der Familie betroffen. (Quelle: Informationsmagazin AADeV 2015).
Deine bisherige Reise mit Alopecia, wie sieht die aus?
Ich habe Alopecia Areata seit ich denken kann. Als Kind bereits waren z.B. keine Hochsteckfrisuren möglich. Der erste große Schub kam mit der Pubertät, die Haare sind immer wieder nachgewachsen und immer wieder ausgefallen. 2012 hatte ich dann so viele Haare, dass eine Frisur mit Tüchern wieder möglich war.
Nach meiner Schwangerschaft im letzten Jahr hatte ich einen großen Schub und habe so viele Haare verloren, dass ein Verstecken des Haarausfalles nicht mehr möglich war. Eine Augenbraue und die Wimpern waren nun auch betroffen.
Was macht es in deinen Augen schwierig, mit Alopecia zu leben?
Es fehlen die Vorbilder. Ich selbst hatte nie Vorbilder, an denen ich mich orientieren konnte. Als Frau mit Glatze ist man ein Hingucker. Eine totale Glatze oder das Tragen eines Tuches wird schnell mit Krebs assoziiert; klar gibt es immer wieder Frauen mit kompletter Glatze zu sehen – auch in den Medien, aber meine Areata war immer fleckig und dies sieht man in der Öffentlichkeit kaum.
Mein Ziel ist es deshalb, Alopecia Areata bekannt zu machen, dass sich niemand dafür schämen muss, es zu zeigen und dass jeder Mensch seinen eigenen Weg finden kann, damit umzugehen.
Ich selbst habe auch nicht jeden Tag Lust „oben ohne“ rauszugehen, weil ich weiß, dass ich dann von allen angeschaut werde. An diesen Tagen bin ich froh um meine Perücke, die mich in der Masse verschwinden lässt. Es gab viele Jahre, in denen ich mich wenig mit Alopecia beschäftigt habe, es war zwar da, aber kein Thema.
Alopecia kann eine große psychische Belastung sein und bringt sicher Einschränkungen mit sich – z.B. beim Sport, beim Schwimmen mit Perücke… Aber es gibt keine körperlichen Schmerzen und man kann eigentlich alles machen.
Nach deinem letzten großen Schub nach der Schwangerschaft hast du dich dazu entschieden, den Haarausfall nicht mehr zu verheimlichen. Wie war dieser Schritt für dich?
Seit der Geburt meines Kindes ist Alopecia für mich wieder sehr präsent und ich suche Wege, mit dem neuen Umstand so umzugehen, dass ich mich nicht verstellen muss.
Familie, Partner und Freunde sind dabei der wichtigste Rückhalt. Ohne die Unterstützung, Akzeptanz, das Mitleiden, Mitfühlen, Beraten und so Lieben wie man ist, wäre es viel schwieriger. Wenn man sich entscheidet, seinen Haarausfall nicht zu verheimlichen, kann man viel Druck rausnehmen.
Social Media ist hilfreich, weil man dort viele Menschen trifft, die Bilder und Geschichten ihres Haarausfalles zeigen. Da fühlt man sich gleich nicht mehr allein. Ich selbst habe ein Instagram Profil (alopecia_courage), in dem ich Bilder von meiner Geschichte zeige und von meinen kleinen Erfolgen im „blank Ziehen“ erzähle. Nachdem ich dort öfter meine eigenen Fotos gesehen habe, bemerkte ich, dass es ok ist und dass es mich gar nicht mehr so geschreckt hat, mich oben ohne zu sehen. Dann habe ich langsam Jedem in meinem privaten Umfeld und bei der Arbeit davon erzählt. Wenn Freundinnen zu Besuch waren, habe ich nicht mehr Tuch oder Perücke getragen. Ich habe gemerkt, dass nur der erste Moment aufregend für mich ist; sobald die Begrüßung vorbei war, habe ich so gefühlt wie immer und vergessen, dass ich keine Bedeckung habe. So habe ich ganz langsam für mich mein neues Ich mit Glatze normalisiert.
Die größten Schritte waren, ohne Perücke oder Tuch spazieren zu gehen, in einem Online-Arbeitsmeeting oben ohne zu erscheinen und ganz allein und mit Glatze schwimmen zu gehen. Bei all diesen Momenten hat mir das Herz bis zum Hals geklopft, aber ich war unglaublich stolz auf mich, dass ich es getan hatte.
Mittlerweile habe ich eine Echthaarperücke, mit der ich mich sehr wohl fühle. Doch sowohl Freunde, die mich seit 20 Jahren kennen, als auch Personen, die ich noch nicht so lange kenne, sagen, dass ich ohne Perücke mehr ich selbst bin.
Wie können sich Betroffene informieren?
Man kann ganz leicht online Mitglied bei Alopecia Areata Deutschland E.V. werden, dann erhält man tolles Infomaterial und bleibt up to date. Erst kürzlich fand eine Online Tagung statt, da fühlt man sich dann mit Glatze erst so richtig normal.
Gerne kann man sich bei mir zur Anmeldung einer Online Selbsthilfegruppe melden (gruppe.alopecia@gmail.com oder auf instagram alopecia_courage).
Nun zeigst du dich ganz offen mit Glatze – Außenstehende sind sich vielleicht manchmal unsicher, wie sie reagieren sollen. Möchtest du darauf angesprochen werden und welche Tipps kannst du ihnen geben?
Ja! Mit Glatze ist es oft wie mit dem Elefanten im Raum. Da ist was, was anders ist und keiner spricht es an. Oft übernehme ich daher gleich das Thema und sage, warum ich keine Haare habe.
Für mich ist es aber auch erleichternd, wenn jemand fragt, dann kann ich eine kurze Erklärung abgeben. Meistens ist das Thema dann schnell erledigt.
Was ich nicht mag, sind keine Nachfragen aber Nachreden, die dann meist in falsche Gerüchte enden. Witze über die Glatze sollte man aber nur machen, wenn man die Person gut kennt und weiß, dass sie damit umgehen kann. Macht die Person selbst einen Witz über ihr Glatze, ist es wahrscheinlich ok.
Welche Reaktionen auf deine Glatze magst du nicht?
Ungefragtes Anfassen finde ich sehr übergriffig. Zumindest vorher fragen ist unbedingt notwendig. Vor allem aber ungefragt Tipps zur Behandlung zu geben, kommt nicht sehr gut an. Ja, es gibt immer wieder wen, der das auch hatte und durch Einreiben von Knoblauch alle Haare wieder bekommen hat. Wenn du solche oder ähnliche Tipps hast, ist das für dich vielleicht hilfreich. Aber Menschen mit Alopecia haben vermutlich schon Jahre an Therapien hinter sich. Frage die Person, ob sie Ideen zu Therapiemöglichkeiten braucht.
Deine offene Art, mit Alopecia umzugehen, gibt bestimmt vielen Betroffenen Mut. Was ist dein Ziel?
Wenn ich mit meiner Offenheit, Alopecia Areata zu zeigen auch nur eine Frau oder einen Mann zu ermutigen kann, sich nicht mehr allein zu fühlen und ihre/seine Alopecia zu akzeptieren, dann habe ich mein Ziel erreicht.